ELEXA SA Electricité, Neuchâtel: 16.5.46-30.4.49

Während 2 Jahren hatte ich mich bemüht, im Welschland eine Stelle zu finden, um Französisch zu lernen. Nun wurde mir der Boden unter den Füssen langsam heiss, denn ich befand mich bei Weibel + Kranz praktisch in gekündigter Stellung.

Da nahte im Aprils 1946 die Erlösung in Form eines Briefes der Firma ELEXA SA, unterschrieben vom Inhaber Chs Humbert-Prince!. Die Firma bezog sich auf ein kleines Inserat im Feuille d'Avis Lausanne, welches ich einige Wochen zuvor hatte erscheinen lassen.

In ihren Winterferien benützte die Familie Zeitungspapier, um ihre Schuhe zum Trocknen auszustopfen, und erst beim Wiederglattstreichen (für einen zweiten Gebrauch) las Mme Humbert-Prince den "Ruf eines jungen Bündner Kaufmanns nach einer Stelle". Wenn das nicht Vorsehung hiess?

So wurde ich einige Zeit später zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, "unter Vergütung der Reisespesen". Ich hatte ordentliches Herzklopfen, war ich mir doch meiner magern Schulkenntnisse in Französisch bewusst. Im Büro von ELEXA SA an der Ruelle Dublé sass ich dann einem eher bleichen und magern (kranken) Patron gegenüber, und ich schaffte die Unterhaltung so gut, dass die im Nebenbüro auf Piket gestellte Sekretärin Ursula Sturzenegger (aus Pontresina) erst beim Schreiben des Anstellungsbriefes in Aktion treten musste.

Als mich die junge Frau in reinem Bündner Dialekt ansprach, fühlte ich mich nicht mehr "so allein gelassen" und ängstlich im Hinblick auf die zukünftige Tätigkeit in der fremden Sprachgemeinschaft.

So trat ich also am 15. Mai 1946 in Neuchâtel an. Ich weiss nicht mehr, wer mir zuvor Unterkunft und Pension bei Familie Zimmermann an der Rue Breguet 12 empfahl. Auf alle Fälle war das für mich ein Glücksfall, wie ich später erläutern möchte. Doch zuvor zum Büro:

ELEXA war eine der grösseren Elektro- und Telefon-Installationsfirmen auf dem Platz, mit etwa 30 Arbeitern, Handlangern und Lehrlingen. Die Büros in der schmalen Gasse waren dunkel und eng; es war einfach eine umfunktionierte 4-Zimmerwohnung. Die ehemalige Küche war die Reparatur-Werkstatt; die Buchhaltungs-Abteilung entsprach grössenmässig etwa einem heutigen Kinder-Schlafzimmer. Kleiderkästen für Personal und Besucher waren unbekannt.

Mein Vorgänger war ein Herr Moser, grosser, junger Engländer mit auffallend roten Haaren. Einer zweisprachigen Ehe entsprungen, sprach er ein feines Pariser Französisch, aber für mich wegen der Geschwindigkeit nur andeutungsweise verständlich. Zusammen mit den Akten (der Buchhaltung) konnte ich einigermassen folgen, und oft half mir Ursula, die Sekretärin, aus der Verlegenheit. Moser war nur noch 14 Tage im Haus, dann musste ich die Buchhaltung bezw. das Finanzwesen übernehmen.

Die Firma hatte einen magern Bankkredit von Fr. 20'000, der restlos und dauernd ausgeschöpft war. Alle 14 Tage mussten die Arbeiter bezahlt werden und monatlich die Angestellten inkl. Patron.

Zuerst erstellte ich eine Fälligkeitsliste der Lieferanten, die uns z.T. nur noch gegen Nachnahme belieferten. Gegenüber standen die Kundenguthaben und Einnahmen aus dem im Parterre befindlichen Laden. Ich liess zuerst allen Lieferanten schreiben, wie viel wir wann zahlen wollten.

Andererseits hing ich mich mit Herzklopfen (meine mageren Französisch-Kenntnisse!) ans Telefon, um von den Architekten unserer grössten Baustellen Anzahlungen anzufordern. Die Verständigung mit Zahlen machte mir dabei die grösste Mühe. Meist konnte ich das Vereinbarte nur auf Grund lückenhafter Notizen nachträglich zusammenreimen.

Die Lieferanten, bezw. ihre Verkaufsleiter kamen nach und nach bei uns im Büro vorbei, um den „Neuen Mann“ zu begutachten. Man gab mir neuen Kredit. Geriet ich gleichwohl wieder in Verzug, so avisierte ich das mit einem neuen Zahlungstermin. So kamen wir langsam in normale Bahnen, aber immer in Geldnot, besassen wir doch kein eigentliches Betriebskapital (das Geld war in Waren und auf Baustellen investiert).

Jeden Monat erstellte das Fiduciaire von Prof. Scheurer einen Monatsabschluss, z.T. auf Grund theoretischer Erfahrungszahlen. Das kostete jährlich über Fr. 3000.--. Im zweiten Monat erstellte ich unaufgefordert selbst einen solchen Abschluss und bat den Patron, ihn mit dem erst später eintreffenden von Scheurer zu vergleichen. Übereinstimmung und Freude herrschte! Nach einigen weiteren Monaten, nachdem der Patron den Glauben an mich gefunden hatte, konnten wir Scheurer von der Arbeit und uns von den Kosten entlasten. Für meinen Lohn von anfänglich Fr. 250.-/Monat -, mit kläglichen   Fr. 25.-- Erhöhungen, musste ich ständig kämpfen.

Respekt als Financier bekam ich von der ganzen Belegschaft, konnten wir doch die Löhne am letzten Monatstag immer pünktlich ausbezahlen. Moser hatte sich darum weniger bemüht; oft bekamen die Leute das Geld erst am 3., 4. oder 5. Tag des folgenden Monats.

Um die Löhne so tief als möglich zu halten, pflegte M. Humbert-Prince die Mär vom „Armen Mann“: „Die Firma hat kein Geld!“ Derweil fehlten uns einfach die flüssigen Mittel. Krass versteifte er sich auf diese Theorie vor Jahresende, in der Angst, Gratifikationen zu gewähren. So bildete sich ab November jeweils eine kleine Verschwörung des techn. und kaufm. Kaders zur beschleunigten Abgabe der Rapport- und Ausmass-Papiere. Die Fakturierung lief auf Hochtouren, und ich persönlich war scharf hinter den Anzahlungen der Bauherren her.

So brachten wir per Dezember jeweils etwas „überschüssiges“ Geld zusammen, womit der Patron jedem einen Leistungszuschuss geben konnte. Dafür praktizierte er übrigens ein raffiniertes System, welches auf der Vergabe von Bonus-Punkten von jeder grösseren Arbeit basierte, nach den Kriterien: „Bienfacture du travail, rendement horaire et bienfacture du métré“ (Frei übersetzt: Arbeitsqualität, Stundenleistung, Ausmass).

Ende Jahr totalisierte er die Punktezettelchen und teilte jedem Begünstigten einen anteiligen (prozentualen) Betrag = Gratifikation zu. Für die damalige Zeit eine moderne, gerechte Belohnungsmethode für die Arbeit. Mit dem System ersahen wir auch, wie viel eine Arbeitsstunde inkl. Material einbringen musste, um schwarze Zahlen zu erhalten.

M. Humbert-Prince stellte im Übrigen den Archi-Typ des Neuenburger Adels dar: distinguiert, mit tadelloser Sprache; für mich das absolute Vorbild. Wegen seines Gallenleidens war er sehr empfindlich; ein Täfelchen Schokolade konnte bei ihm eine schwere Kolik auslösen, nach welcher er einige Tage zuhause bleiben musste.

Das Kapital fürs Geschäft stammte von seiner Frau, geb. Jacot-Guillarmod, Tochter eines Teilhabers der in Neuchâtel ansässigen Welthandelsfirma Petitpierre & Grisel. Sie zeigte sich selten im Büro; erst einige Zeit nach meinem Eintritt inspizierte sie aber den neuen Buchhalter!

Kundenkontakte hielt, neben dem Patron, Vorarbeiter Matthey, Ing. Favarger und Madame F. Fakturistin. Sie konnte arbeiten wie ein Ross, hatte aber ein ebenso mieses Salär wie mein Vorgänger und ich selbst.

Immer wieder wunderten wir uns, wie sie damit Sonder-Anschaffungen oder Geschenke für ihre Enkel finanzieren konnte. Das Geheimnis lüftete sich eines Tages, an einem Dezembermorgen, als mich Ursula, nach dem Kassensturz im Laden, fragte, ob ich gestern Zahlungen eines Immobilien-Verwalters erhalten hätte. Dieser habe gestern Ladenrechnungen, und damit wohl auch im Büro Installations-Rechnungen, bezahlt. Wir hatten aber kein Geld erhalten.

Nun wurden wir stutzig, und wir baten M. Humbert-Prince beim betreffenden Kunden nachzufragen. In der Folge legte man ihm von F. quittierte Rechnungen vor, zum Teil unverbuchte vom laufenden Monat, von welchen wir bei uns in der Buchhaltung die gelben Kopien nicht mehr vorfanden, wohl aber andere, scheinbar korrekt mit den fortlaufenden Nummern aber anderen Kundennamen und kleineren Beträgen.

Der Trick war von F. nur durchführbar, weil wir keinen abschliessbaren Kasten für die unverbuchten Rechnungen besassen. Sie kassierte das Geld, entfernte die nummerierten gelben Kopien, ersetzte sie in der Mittagspause durch neue Fakturen mit niedrigerem Betrag, wozu natürlich auch die händische Umstellung des Numeroteurs nötig war.

F. gestand unter Heulen, und Bitten um Verzeihung, die Verfehlung ein und schwor unserem Treuhänder, sie habe alle Verfehlungen gestanden und wolle das unterschlagene Geld zurückbezahlen. Ich verlangte hingegen den sofortigen Hinauswurf, doch belehrte mich der Treuhänder, „man wechsle nicht einen ganzen Wagen aus wegen eines kaputten Rades“.

Ursula und ich blieben skeptisch. Wir stellten von den Vorjahren Kundenzahlungen (der Immo-Büros) zusammen und sandten den Patron auf Kontrolltour, was er vorerst widerwillig machte, dann aber mit ernüchternden Resultaten zurückkam.

Nun wussten wir, wo die F. das Geld her hatte. Sie wurde darauf fristlos entlassen. Gegen die gegen mich erhobenen Vorwürfe der mangelnden Kontrolle wies ich wegen Fehlens entsprechenden Mobiliars zurück und verstieg mich in meiner Erregung sogar dazu, M. Humbert-Prince die beschämend niedrigen Löhne der Angestellten vorzuwerfen, die geradezu zum Vertrauensmissbrauchs zwingen würden. - Seit dieser Episode wurde ich in geschäftlichen Geldangelegenheiten übervorsichtig. Eine bittere Erfahrung und wirksame Lehre.

Nun hatten wir also keine Fakturistin mehr. Ich wurde mit einer bescheidenen Lohnerhöhung zum Chef de bureau ernannt, zügelte in das Büro mit Kundenschalter und war nun auch hauptamtlicher Fakturist und Kassierer. Die Buchhaltung führte unter meiner Anleitung der gleichaltrige Lehrling Lory.

Zum Glück halfen mir bei der Einarbeitung in die Telefon- und Elektro-Installaltionstarife die Kenntnisse aus dem Lehrbetrieb in Chur und die Physik-Lektionen von Sek.-Lehrer Hubbuch,  aber – jetzt alles in Französisch! Die harte tägliche Praxis, Kontakt am Schalter mit Kunden, Lieferanten und unsern Arbeitern waren die besten Lektionen!

Nach kurzer Zeit sahen wir ein, dass die Entlastung vom Buchen allein für mich nicht genügte, und wir stellten eine Französin gesetzten Alters als Hilfe ein.

So lebte ich denn mehr oder weniger im Frieden dahin, die schöne Gegend am See und die Gesellschaft meiner Freunde in der Pension geniessend. - Da war Hermann Bachmann, bei Zimmermanns wohnend, Emil Böhm, im gleichen Haus im Dachstock, neben mir im Zimmer. Lucien aus Paris unterrichtete uns nicht nur in Französisch, sondern schärfte unsern Blick auch für das gleiche, aber „andere“ Geschlecht! Er war ein vollkommener Bluffer, der sich bei FAVAG AG als Zeichner anstellen liess, aber zuvor noch nie an einem Zeichenbrett gesessen hatte.

Es gab noch andere Kostgänger in unserer Pension; während der Sommer-Ferienkurse an der UNI-Neuchâtel auch junge Deutschschweizer, wie Ernst Marti aus Rapperswil BE. Diese Bekanntschaft hielt bis heute, nachdem ich sogar Götti des Sohnes Daniel geworden war.

Hans aus Bern war auch längere Zeit an unserem Tisch. Er war ein stiller, junger Mann. Ich hätte gerne einen Teil von seiner Abgeklärtheit gehabt. Als Hans mir, in seiner offenen Art, aber schilderte, was er schon alles erlebt hatte, kam ich zum Schluss, ich sei gar nicht zu beklagen. - Wieder eine Lebenserfahrung mehr;mMan sieht nur das Äussere des Menschen. Ein Austausch von Erfahrungen kann zur Selbstfindung beitragen.

In Sachen Arbeit und Ausbildung begann ich über meine Lage nachzudenken. Ich befand mich praktisch an der Decke der Entwicklungsmöglichkeiten in der ELEXA. Gute Stellen am Platz Neuchâtel waren rar. Ich wollte auch nicht irgendeinen Job finden, sondern weiterkommen. Ich begann, mich nach Geeignetem umzusehen.

Christian MICHAEL